Das Netzwerk Historische Grundwissenschaften zeigte sich auf seiner Jahrestagung zum zehnjährigen Jubiläum in Berlin so wandelbar und experimentierfreudig wie eh und je. Auch dieses Mal wurde eine eigene Form der Veranstaltung gefunden und der feierliche Abendvortrag durch eine nicht weniger feierliche Podiumsdiskussion ersetzt. Für die Round-Table/Fish bowl-Hybridveranstaltung kooperierte das Netzwerk Historische Grundwissenschaften mit dem Konsortium für eine Nationale Forschungsdateninfrastruktur in den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften (NFDI4memory).
Das unter der genannten Überschrift gefasste Thema war die bereits mehrfach auf den NHG-Tagungen diskutierte Positionierung der Grundwissenschaften zu den Digital Humanities (DH) bzw. zu den sich rasant vervielfältigenden Möglichkeiten digital basierten Arbeitens. Unter der Moderation von Dr. Jörn Christophersen diskutierten folgende Personen (in Sitzordnung)
Der Moderator hat den Platz geräumt, noch ist der Stuhl zwischen Nikola Burkhardt, Dr. Lena Vosding, Dr. Jörn Christophersen, Prof. Dr. Torsten Hiltmann und Dr. Frank Bischoff (v.r.n.l.) frei für die wechselnden Diskutant:innen …
Nikola Burkhardt, M A, hat ihren Master an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Nach einem Studium der klassischen Archäologie und der Geschichte ist sie dort auch wissenschaftliche Mitarbeiterin und arbeitet gerade an ihrer Dissertation zum Thema Unsicherheiten bei der Datafizierung von historischem Material.
Dr. des. Lena Vosding, Research Fellow am Linacre College, Oxford, hat davor ihren Magister an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster abgeschlossen und wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu drei mittelalterlichen Briefbüchern des Benediktinerinnenklosters Lüne promoviert, die jetzt digital ediert werden.
Prof. Dr. Torsten Hiltmann, Inhaber des Lehrstuhls für Digital History an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Co-Sprecher von NFDI4memory und verantwortet die Task Area Data Culture mit. In Dresden hatte Torsten Hiltmann mittelalterliche Geschichte, Philosophie und Psychologie studiert, wurde in einem Co-tutelle-Verfahren in Paris und Dresden zu Heroldskompendien promoviert und war danach Juniorprofessor am Historischen Seminar der Universität Münster.
Dr. Frank Bischoff ist Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Er wurde in Marburg mit einer mediävistisch-grundwissenschaftlichen Arbeit über Papsturkunden promoviert, war am Deutschen Historischen Institut in Rom tätig und schlug die Archivlaufbahn ein, die ihn von der Archivschule als Referendar über das Staatsarchiv Münster und die Archivschule als deren Leiter bis zur Leitung erst des Landesarchivs Düsseldorf und nun aller Landesarchive NRW von Duisburg aus führte.
Die Hintergründe der Diskutant:innen waren also verschieden, in den Perspektiven gab es allerdings keine großen Unterschiede – niemand beantwortete die Frage „Wird jetzt alles anders?“ mit „Nein!“ oder stand den DH ablehnend gegenüber. So zeigte sich schnell eine Einigkeit darüber, dass die Grundwissenschaften an vielen Stellen in enger und fruchtbarer, aber durchaus nicht spannungsloser Beziehung zu den Entwicklungen in den DH stehen. Digitale Methoden sind aus Forschung und Lehre nicht mehr wegzudenken; durch sie haben wir ganz neue Möglichkeiten der Erfassung, Auswertung, Darstellung und nicht zuletzt auch Genese von historischen Quellen. Daraus entstehen wiederum neue Fragen an das Material, aber auch an die 'klassischen' Disziplinen und an die Institutionen der Forschung, Lehre und Archivierung. Der 'digital turn' ist längst vollzogen, doch der Dialog über Definitionen und Perspektiven scheint noch intensiver geführt werden zu müssen.
Die Fragen und Ansichten, die von den Diskutant:innen, vom Moderator und später auch vom Publikum aufgebracht wurden, kreisten letztlich um drei Aspekte:
1. Fragen der Definition und des Umgangs mit digitalen tools und Materialien, beispielsweise „Was verstehen wir unter Begriffen wie Daten, Digitalisierung, Datafizierung, digitale Transformation?“, „Ist die Herstellung von Skripten zur digitalen Auswertung einer Quelle eigenständige Forschung?“, „Wie stellen wir sicher, dass eine grundlegende data literacy bzw. Medienkompetenz die klassische Quellenkritik und mithin die 'alten' Grundwissenschaften ergänzt?“
Hier konnte Torsten Hiltmann darauf verweisen, dass gerade der Kooperationspartner NFDI4Memory sich um die Beantwortung dieser Fragen bemüht und sich beispielsweise auch dafür stark macht, dass scripting und die Herstellung digitaler tools als eigenständige Leistung ausgezeichnet werden. Es wurde aber auch deutlich, dass die entsprechenden Bestrebungen an den verschiedenen Forschungs- und Lehrinstitutionen noch recht unterschiedlich ausgeprägt sind. Ein allgemeiner Standard ist, freilich auch der raschen Folge von Neuerungen im IT-Bereich geschuldet, weiterhin erst in der Entwicklung begriffen. Vielen Initiativen und Projekten scheint auch noch immer ein gewisses Element des Einzelkämpfer:innentums anzuhaften – ein weiteres Argument für Austausch und Vernetzung. Es gilt, die einzeln oder systematisch erworbenen Kompetenzen von Einzelpersonen und Projektgruppen zu bündeln und die gesammelten Erfahrungen Anderen transparent darzulegen. Nicht zuletzt sind gerade die Theorien und die Ethik digitaler Quellen und Methoden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung und Lehre ein Feld, das erst von Pionierinnen wie Nikola Burkhardt der breiteren Fachgemeinschaft zugänglich gemacht wird.
2. Fragen des praktisch-materiellen Umgangs: „Wer trägt die (unendlichen) Kosten von Datenbanken und Websites?“, „Wer trägt die Kosten von digitalen tools, beispielsweise aufwändiger Software, die (zu Recht?) nicht kostenneutral zu erwerben sind?“, „Wenn die Ressourcen für Speicher, Energie und Rechenmaschinen endlich sind, wie gewährleisten wir den langfristigen Erhalt unserer Informationen?“, „Wie stellen wir sicher, dass digitale Daten auch vor digitalen Bedrohungen geschützt werden?“
Zu diesem Themenfeld wurden vor allem Ereignisse angesprochen, die die Fragilität digitaler Entitäten sichtbar gemacht haben, beispielsweise der Angriff auf die British Library im Jahr 2023, bei dem in großem Umfang Nutzer:innendaten entwendet wurden und die digitalen Angebote (Kataloge, Findmittel, Digitalisate) für mehrere Monate offline gingen. Auch Datenbanken mit wertvollen Forschungsergebnissen, die wegen auslaufender Drittmittel wieder stillgelegt wurden, fanden Erwähnung. Frank Bischoff berichtete diesbezüglich aus seiner Perspektive des Archivars, der sich mit dem dauerhaften Erhalt digitaler Quellen befasst, dass die Archive NRW in diesem Bereich als Vorreiter sehr aktiv sind und Methoden für die neuen Quellengattungen erarbeiten. Auf globaler Ebene ist allerdings das Internet Archive die einzige Großinitiative, die Websites archiviert. Und auch hier sind jüngst (politisch motivierte) Angriffe zu verzeichnen gewesen.
3. Fragen der Kompetenzverteilung und des Verhältnisses zwischen materiellen und digitalen Quellen: „Entstehen neue Hierarchien in der Wahrnehmung und Wertschätzung von Quellen entlang des Digitalisierungsgrades?“, „Wie vermitteln wir, nicht zuletzt in der Lehre, die Informationen eines dreidimensionalen Objektes, die sich (noch) nicht digital abbilden lassen?“, „Wie stellen wir sicher, dass bei aller Euphorie für digitale Möglichkeiten, beispielsweise Übersetzungs- oder Transkriptionssoftware, auch die andauernde Bedeutung der klassischen Kompetenzen nicht unterschätzt wird?“
Dieser Fragenkomplex schloss den Kreis zum Gründungsmoment des NHG, bei dem vor einem Dezennium rund 30 Doktorand:innen an der Ludwig-Maximilians-Universität München zusammenkamen, deren Projekte in die sog. ‚kleinen Fächer‘ der Historischen Grundwissenschaften fielen. Schnell hatte sich damals herausgestellt, dass durch den zu der Zeit feststellbaren Abbau von Lehrstühlen und entsprechenden Veranstaltungen viele Teilnehmer:innen damit konfrontiert waren, sich die benötigten Kompetenzen autodidaktisch anzueignen. Diese Entwicklung scheint inzwischen gestoppt und – nicht zuletzt dank der DH – sogar leicht rückgängig zu sein. Dennoch lässt sich in einigen Aspekten der heutigen Diskussion um das Erlernen und die Anwendung digitaler Methoden durchaus ein Echo der damaligen Diskussionen hören.
…neben vielen anderen diskutierte auch Prof. Dr. Thomas Ertl (FU Berlin) mit den Round-Table-Diskutant:innen.
Die gesamte Veranstaltung wurde mit regem Interesse sowohl vor Ort als auch im Livestream verfolgt. Nicht alle aufgebrachten Fragen wurden an diesem Abend beantwortet, aber dass sie gestellt wurden – viele auch im Gewand einer Anmerkung oder Anekdote – ist als gegenwärtige Standortbestimmung sicher mindestens genauso aussagekräftig.
Damit bleibt festzuhalten, dass die Frage „Wird jetzt alles anders?“ aktuell wohl mit einem klaren „Ja, aber …“ zu beantworten ist. Mehrfach wurde betont, dass die historischen Fächer und somit auch die Grundwissenschaften seit jeher einem Wandel unterliegen, es also sowieso fortwährend „anders“ wird. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass die aktuellen Wandlungen durchaus einen tiefergehenden Charakter haben, weil sie in so vielen Punkten mit Entwicklungen in Bereichen verbunden sind, die bislang eher selten zu den ‚angrenzenden Disziplinen‘ gehörten. Sich an diesen Schnittstellen noch deutlicher in die Diskussionen und Entwicklungen aktiv einzubringen und auch kritische Rückfragen zu formulieren, scheint für die sich digitalisierenden historischen Grundwissenschaften das Gebot der Stunde.